Ins Denken ziehen by Dieter Henrich

Ins Denken ziehen by Dieter Henrich

Autor:Dieter Henrich
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Biographien, Autobiographien
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2021-01-26T00:00:00+00:00


6. Die amerikanischen Jahre

Seit 1968 lehrten Sie regelmäßig an amerikanischen Universitäten, zuerst an der Columbia und später an der Harvard University. Sie gelten bis heute in den USA als einer der angesehensten Vertreter der kontinentalen Philosophie und haben sich dort zugleich der analytischen Philosophie geöffnet.

Ja, ich war froh, über fast zwei Jahrzehnte regelmäßig eingeladen zu sein und als Gastprofessor sogar an der renommierten Harvard University über viele Jahre lehren zu können. Dort eröffneten sich mir hervorragende Möglichkeiten zum eigenen Lernen und zum intensiven Austausch zwischen diesen unterschiedlichen Denktraditionen.

Wann kamen Sie zum ersten Mal in Kontakt mit dem Englischen?

Nach Latein und Griechisch war Englisch meine dritte Fremdsprache. Später im Krieg fand der Englischunterricht immer seltener statt, da er zumeist auf die letzten Stunden fiel, das heißt auf die Zeit, in der Fliegeralarm immer wahrscheinlicher wurde. Gleichwohl war der Unterricht in Englisch sehr gut, insbesondere aber nach Kriegsende. Meiner Englischlehrerin verdanke ich ja auch die Anregung, schon als Schüler die Vorlesungen eines Kulturoffiziers der Amerikaner an der Universität zu besuchen.

Wie sah das konkret aus?

Als Franz Borkenau, ein zunächst nach Frankreich emigrierter Kultur- und Geschichtsphilosoph im weiteren Umkreis der Frankfurter Schule, nach Kriegsende in Marburg als amerikanischer Kulturoffizier Vorlesungen hielt, sagte meine Lehrerin sehr bestimmt: «Herr Henrich, gerade Sie müssen da hingehen.» Ich war dann fasziniert von den überraschenden und weit ausgreifenden Verbindungslinien, die der Remigrant in seiner Gedankenführung ziehen konnte. Borkenau war früher einmal oberster Funktionär der kommunistischen Studentenschaft Deutschlands gewesen. Nun war er engagierter Antikommunist, rhetorisch brillant, auch gelehrt, aber ebenso soziologisch wie universalhistorisch gebildet und argumentierend. Ihm verdanke ich meine erste Begegnung mit einem jüdischen Intellektuellen, der philosophisch ebenso versiert war wie in der politischen Applikation.

Könnten Sie die Geschichtstheorie von Borkenau näher charakterisieren?

In seinem Buch Ende und Anfang. Von den Generationen der Hochkulturen und von der Entstehung des Abendlandes, das allerdings erst 1984 postum erschien und nun schon zu Unrecht fast vergessen ist, bezog sich Borkenau auf Spengler und Toynbee. Dieser hatte Spenglers Theorie aufgegriffen und respektabel gemacht, auch dadurch, dass er, anders als Spengler, die Kulturen nicht als Urphänomene in Anspruch nahm, sondern zu erklären versuchte, wie es zu einem Kulturzyklus kommt. Seine Grundbegriffe waren dabei challenge und response. Das Faszinierende an Borkenau war schon 1946 für mich, dass er bestritt, dass unsere Kultur auf Rom und Jerusalem zurückzuleiten ist. Das christliche Abendland, das wir sein sollen, hält er für eine Ideologie. Unsere Kultur stamme aus einem ganz anderen Impuls, nämlich aus Irland, aus der irischen Mönchsbewegung. Borkenau nennt die von den Iren inspirierte Kultur die Kultur der Ich-Sager. Es ging um die positive Bedeutung der Verbindung von Selbstbehauptung und Unendlichkeit in der Moderne. Schon Spengler hatte ja deutlich gemacht, dass weder Jerusalem noch die Antike die Unendlichkeit als positive Figur anerkannt hatten. So etwas wie Rembrandt – das meinte schon Spengler – wäre von der Antike her undenkbar.

Gab es andere geistige Erfahrungen an der Universität, die Sie aus Ihrer Schülerzeit erinnern?

Um die Zeit, zu der ich das Abitur bestand, hörte ich auch einzelne Vorträge von amerikanischen Philosophen, darunter den recht berühmten Whitehead-Schüler Charles Hartsthorne.



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